Deutschland

Arzneimitteltherapiesicherheit: 
Hätten Sie es gewusst?

30. April 2025
Comic-Darstellung einer älteren Patientin mit Schwindel, die sich mit ihrer Ärztin unterhält.

Frau Schulz (71 Jahre) ist langjährige Patientin und erhält eine gut verträgliche Dauermedikation, darunter Tiotropiumbromid 10 μg (1-0-0) und Tramadol 100 mg retard (1-0-1). Die Patientin kommt in die Praxis und berichtet über neu aufgetretenen Schwindel sowie ein unangenehmes, trockenes Gefühl im Mund. Auf Nachfrage teilt Frau Schulz mit, dass sie seit über einem Monat täglich Cetirizin 10 mg, ein Arzneimittel gegen Heuschnupfen, aus der Apotheke einnimmt; ansonsten habe sich an ihrer Medikation nichts verändert. 

Nach eingehender Untersuchung entscheiden Sie sich für einen Therapieversuch mit dem Kombinationspräparat aus Dimenhydrinat 40 mg und Cinnarizin 20 mg (1-1-1) zur Behandlung des Schwindels. Eine Woche später kehrt Frau Schulz in die Praxis zurück und berichtet von einem Sturz.

Was ist hier passiert?

Durch die Wirkstoffe Tiotropiumbromid, Tramadol und Cetirizin war die Patientin bereits mit einer hohen anticholinergen Last konfrontiert, die sich in Form von Schwindel und Mundtrockenheit äußerte. Mit der Neuverordnung von Dimenhydrinat – einem weiteren Wirkstoff mit hohem anticholinergen Potenzial - wurde die zugrundeliegende Ursache des Schwindels nicht behoben, was zu anhaltenden Symptomen und letztlich zu einem Sturz führte. 

Der Neurotransmitter Acetylcholin (ACh) spielt für zahlreiche Funktionen des Nervensystems eine entscheidende Rolle. Anticholinergika blockieren die Wirkung von ACh im zentralen und/oder peripheren Nervensystem. Dies ist entweder die beabsichtigte Hauptwirkung, wie bei Wirkstoffen zur Behandlung der überaktiven Blase oder eine unerwünschte Nebenwirkung z. B. bei trizyklischen Antidepressiva oder H1-Antihistaminika.1 

Besonders ältere Patienten reagieren empfindlich auf anticholinerge Belastungen. Dies liegt unter anderem an einer verlangsamten Ausscheidung anticholinerger Medikamente und einer erhöhten Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, was zu höheren Wirkstoffkonzentrationen im zentralen Nervensystem führen kann.  Zudem nimmt die cholinerge Übertragung im Alter allgemein ab.2,3 Als Folge können die Patienten mit zentralen (z. B. Schwindel, Tremor, Verwirrtheit) und peripheren (z. B. Obstipation, Mund- oder Augentrockenheit) Nebenwirkungen konfrontiert sein.2,3 Aufgrund dieser zum Teil gravierenden Nebenwirkungen werden viele anticholinerg wirkende Arzneimittel in der Priscus-Liste als potenziell inadäquat für Menschen ab 65 Jahren eingestuft.4 

Die Gesamtwirkung aller von einer Person eingenommenen Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften wird als anticholinerge Last (anticholinergic burden; ACB) bezeichnet.1

Zur Berechnung der anticholinergen Last können Scoring-Systeme herangezogen werden, die die anticholinergen Eigenschaften der einzelnen Wirkstoffe einstufen. Die einzelnen Scores der jeweiligen Wirkstoffe addieren sich dann zur Gesamt-ACB-Belastung. Für den deutschen Markt existiert beispielsweise das Scoring-System nach Kiesel et al.: 

  • Score 0: keine anticholinerge Wirkung
  • Score 1: schwache anticholinerge Wirkung
  • Score 2: mittlere anticholinerge Wirkung
  • Score 3: starke anticholinerge Wirkung

Die Dauer- und Selbstmedikation von Frau Schulz enthält bereits drei Wirkstoffe mit anticholinergem Potenzial, die wie folgt eingestuft werden: 

  • Tiotropiumbromid (Score 1)
  • Cetirizin (Score 1)
  • Tramadol (Score 2)

Bereits hier besteht eine Gesamt-ACB-Belastung von 4, was für eine 71-jährige Patientin ein stark erhöhtes Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen darstellt. Mit der zusätzlichen Einnahme von Dimenhydrinat (Score 3) steigt der Gesamt-ACB-Score auf 7.

Was ist zu tun?

Eine hohe anticholinerge Belastung sollte vor allem bei älteren Patienten vermieden werden, allerdings ist ein Deprescribing der verursachenden Medikamente nicht immer ohne weiteres möglich.2 

Nach Kiesel et al. gelten folgende Anhaltspunkte für geriatrische Patienten:2

  • Enthält die Medikation ein Arzneimittel mit Score 3 oder beträgt die Gesamt-ACB-Belastung ≥ 3, sollte wenn möglich, ein Wechsel auf alternative Arzneimittel mit keinem oder geringerem anticholinergen Potenzial erfolgen (Ziel ist die Reduktion auf < 3 Punkte).
  • Ist dies nicht durchführbar, ist eine Dosisreduktion und Überwachung der Patienten auf anticholinerge Nebenwirkungen empfehlenswert.

Kiesel et. al. setzen in ihrem Scoring-System eine Obergrenze von 3 Punkten fest. Ab diesem Wert werden unabhängig von einer weiteren Erhöhung der Gesamt-ACB-Summe die oben genannten Maßnahmen empfohlen. Diese Begrenzung beruht auf der Annahme, dass die anticholinerge Gesamtlast vermutlich nicht linear ansteigt, sondern ein Plateau erreicht, auch wenn die Anzahl an Anticholinergika weiter ansteigt.2 

Falls eine Reduktion der anticholinergen Belastung nicht umsetzbar ist, sollten den Patienten unterstützende Maßnahmen zur Linderung ihrer Symptome vorgeschlagen werden. Beispiele hierfür sind befeuchtende Augentropfen, zuckerfreie Bonbons oder Kaugummis, osmotisch wirksame Laxanzien und barriereverstärkende Dermatika. Diese Maßnahmen können Patienten bei Symptomen wie trockenen Augen, Mund und Haut oder Obstipation Erleichterung verschaffen.6 

Sie überprüfen die Dauer- und Bedarfsmedikation Ihrer Patientin. Da diese bisher gut vertragen wurde, streben Sie zunächst eine Rückkehr zum Status quo an. Um die anticholinerge Last zu reduzieren, empfehlen Sie, Cetirizin durch ein topisches Antihistaminikum ohne anticholinerges Potenzial, wie beispielsweise Azelastin in Form von Augentropfen oder Nasenspray, zu ersetzen. Da das Arzneimittel gegen Schwindel (Dimenhydrinat) aufgrund einer Verschreibungskaskade in die Medikation aufgenommen wurde, entscheiden Sie sich auch hier für ein Absetzen. So kann ein potenziell ungeeigneter Wirkstoff für ältere Patienten (PIM) und mit anticholinergem Score von drei umgangen werden. 

Bestehen die Symptome weiterhin, kann erwogen werden, Tramadol gegen Tilidin, ein schwaches Opioid ohne anticholinerge Nebenwirkungen, auszutauschen.4 Zudem kann eine Überweisung der Patientin zur Krankengymnastik für Mobilisierung und Gleichgewichtsübungen sinnvoll sein.5

Fazit:

Die Bedeutung der anticholinergen Last bei älteren Patienten wird häufig unterschätzt. Zudem können Verschreibungskaskaden bestehende Symptome verschlimmern und die Nebenwirkungen verstärken. Es ist entscheidend, die Medikation regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, um die Risiken, vor allem für ältere Patienten, zu minimieren.

Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) ist ein wichtiges Thema, dessen Nicht-Beachtung jährlich viele Krankenhauseinweisungen und sogar Todesfälle verursacht (Link zur Studie). Mit dem Medizinprodukt THERAFOX PRO AMTS möchten wir Sie dabei unterstützen, Ihre Patientinnen und Patienten bestmöglich vor vermeidbaren, durch die Versorgung verursachten, gesundheitlichen Schäden zu schützen. 
THERAFOX PRO AMTS ist ein digitaler Assistent, der auf mögliche Arzneimitteltherapierisiken aufmerksam macht und in das Praxisverwaltungssystem integriert ist.

Quellen:

[1] Taylor-Rowan M, et al. Anticholinergic deprescribing interventions for reducing risk of cognitive decline or dementia in older adults with and without prior cognitive impairment. Cochrane Database Syst Rev. 2023 Dec 8;12(12):CD015405

[2] Kiesel EK, et al. An anticholinergic burden score for German prescribers: score development. BMC Geriatr. 2018 Oct 11;18(1):239

[3] Mintzer J, Burns A. Anticholinergic side-effects of drugs in elderly people. J R Soc Med. 2000 Sep;93(9):457-62

[4] Mann NK et al. Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: PRISCUS 2.0. Deutsches Ärzteblatt. 2023; 120:3–10

[5] Hausärztliche S1-Leitlinie Geriatrisches Assessment in der Hausarztpraxis; AWMF-Registernummer: 053 – 015; Version 1.03; Mai 2018

[6] Blanz B, et al. Psychiatrie und Psychotherapie compact: das gesamte Facharztwissen. Georg Thieme Verlag, 2014.

Verwandte Artikel
THERAFOX PRO AMTS mit optimierter Risikobewertung von Arzneimitteln

Die digitale Arzneimitteltherapiesicherheit hat mit den neuesten ...

Hausarzt Dr. Peter Balaz steht am Empfang seiner Praxis und berichtet von THERAFOX PRO.
Medikationssicherheit: „Vor allem bei multimorbiden Patienten ist es wichtig, sich die Wechselwirkungen anzuschauen.“

Dr. Peter Balaz ist Arzt für Allgemeinmedizin. Seine Praxis befindet sich i...