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Für die Gestaltung von Gesundheitssystemen müssen langfristige Trends vorhergesehen und berücksichtigt werden, damit zu gegebenem Zeitpunkt die Versorgung dem jeweiligen Bedarf entspricht. Der Mangel an Ärzten sowie Pflegekräften in Europa (siehe ÖKZ 02/2025) verweist auf die Komplexität dieser politischen Aufgabenstellung. Seit der COVID-19-Pandemie ist allen Entscheidungsträgern klar, dass die Verfügbarkeit von medizinischen und pflegerischen Fachkräften der entscheidende Faktor für das Funktionieren eines Gesundheitssystems ist. Aber es bleibt der politischen Prioritätensetzung überlassen, welche Personalkapazitäten für zukünftige Bedarfe aufzubauen sind.
Mit der Studie „Healthcare workforce demand and supply in the EU27. Projections for the period 2021-2071“ (SANDEM) hat eine internationale Arbeitsgruppe im Auftrag der EU-Kommission das umfangreiche (und teilweise dennoch lückenhafte) Datenmaterial aus den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union statistisch aufbereitet und daraus eine Prognose für die ärztliche und pflegerische Personalausstattung der EU-Länder bis 2071 in sieben Szenarien erstellt. Darin werden die Angebots- und Nachfrage-Variablen, welche den Personalstand bestimmen, modelliert und in die Zukunft extrapoliert. Die Ergebnisse der Analyse sind nicht als Kristallkugel gedacht, in welcher sich die Zukunft offenbart, sondern stellen statistische Berechnungen der Anzahl an ärztlichen und pflegerischen Fachkräften bis zum Jahr 2071 in der Europäischen Union dar, die sich aus unterschiedlichen Strategien der Personalpolitik ergeben.
Das Basis-Szenario geht von einer auf dem Level von 2021 konstanten Zuwachsrate des Gesundheitspersonals durch Ausbildung und Immigration aus und einer konstanten Ausfallsrate durch Pensionierung, Berufsausstieg und Emigration. Der berechnete Personalstand ergibt sich in diesem Szenario einzig aus der zeitlichen Veränderung der Altersstruktur der Fachkräfte. Die Konsequenz einer solchen Personalstrategie wäre der Rückgang der Anzahl an Ärzten und Pflegekräften in den nächsten 15 Jahren und ein darauffolgender stetiger Anstieg auf 16 Prozent mehr Ärzte bzw. 8 Prozent mehr Pflegepersonal über dem Level von 2021 im Jahre 2071.
In dem Szenario einer auf dem Niveau von 2021 stabil gehaltenen Personalsituation müssten die Ausbildungsplätze dynamisch an die Ausfallsraten angepasst werden. Dass dieses Ziel in der Praxis bekanntlich schwer umsetzbar ist, da Ausbildungskapazitäten nicht kurzfristig auf- und abgebaut werden können und weil die Ausbildung medizinisch-pflegerischer Fachkräfte erst mit einer ungewöhnlich langen Latenz versorgungswirksam wird, zeigt sich unter anderem in den periodischen Schwankungen von „Ärzteschwemme“ und „Ärztemangel“. Während die beiden eben beschriebenen Szenarien nur die Angebots-Variablen des Fachkräfte-Pools modellieren, gehen die folgenden fünf auch in unterschiedlicher Weise auf die Nachfrage-Variablen ein.
Veränderung der Altersstruktur 2021 - 2071 in Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen.
Ein Populations-Szenario berechnet die Personalentwicklung in konstantem Verhältnis zur Anzahl der Gesamtbevölkerung ohne Berücksichtigung der veränderten Altersstruktur in der theoretischen Annahme, dass alleine die Menge der zu versorgenden Menschen den Bedarf an Fachpersonal beeinflusst. Damit würden im Jahre 2071 um drei Prozent weniger Ärzte und ein unveränderter Stand beim Pflegepersonal vorhanden sein.
Im Utilisations-Szenario wird die Zahl der Berufseinsteiger nach der Ausbildung an die unterschiedliche Inanspruchnahme von Leistungen durch die verschiedenen Alters- und Geschlechter-Kohorten in der Gesamtbevölkerung angepasst, wobei die Gewichtungsfaktoren über den Prognosezeitraum hinweg auf dem Level von 2021 konstant gehalten werden. Mit der Verfolgung dieser Strategie wären 2071 um 25 Prozent mehr Ärzte bzw. 28 Prozent mehr Pflegekräfte im Gesundheitssystem beschäftigt.
Das Krankheitslast-Szenario schätzt den zukünftigen Versorgungsbedarf wie das Utilisations-Szenario nach der zahlenmäßigen Entwicklung der Gesamtbevölkerung, hinterlegt aber die alters- und geschlechterabhängige Krankheitslast („burden of disease“) des Jahres 2021. Damit wären am Ende des Prognosezeitraums 30 Prozent mehr Ärzte und 33 Prozent mehr Pflegekräfte zu erwarten.
Mit einem Szenario der gesunden Alterung wird zusätzlich zum Vorgehen des Krankheitslast-Szenarios eine optimistische sukzessive Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung (z. B. durch präventive Maßnahmen oder Reduktion von Gesundheitsrisiken) einkalkuliert. Einzig in diesem Szenario würde das Gesundheitswesen mit 18 Prozent weniger Ärzten und 16 Prozent weniger Pflegepersonal auskommen.
Schließlich werden in einem Risiko-Szenario zusätzlich noch ökonomische Betrachtungen einbezogen, wie der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt und einer Verringerung der Einkommenselastizität für die Nachfrage an Gesundheitsleistungen. Daraus leitet sich ein Plus von 24 Prozent bei ärztlichem bzw. von 21 Prozent bei Pflegepersonal ab.
Die Bevölkerung der EU ist eine der ältesten der Welt. 2023 sind 20 Prozent der Europäer über 65 Jahre alt, nach Eurostat-Prognosen werden es 2050 an die 30 Prozent sein. Eine alternde Bevölkerung hat einen steigenden Bedarf an Gesundheitsleistungen und reduziert gleichzeitig das Angebot an Fachkräften, welche diese Gesundheitsleistungen erbringen können – weil nämlich der Fachkräfte-Nachwuchs den durch Pensionierungen, Emigration oder Berufswechsel schwindenden Fachkräfte-Pool nicht mehr ausgleichen kann. Langfristige nationale Planung der bedarfsgerechten Verfügbarkeit von medizinischen Fachkräften muss sowohl den Aufbau dieser Personalressourcen (Ausbildung und Rekrutierung) bzw. deren Schwund (Migration und Pensionierung oder Jobwechsel) betrachten als auch die Faktoren, welche den Bedarf bestimmen (Alterung und Krankheitslast). Die Variablen dieser Prognosen können einerseits relativ genau berechenbar sein, wie demografische Entwicklung oder Altersstruktur der Fachkräfte, andererseits aber äußerst unsicher abschätzbar sein, wie ökonomische Entwicklungen oder die Epidemiologie. Für Strategien, deren Effekte erst nach mehreren Legislaturperioden eintreten, ist das Denken in Alternativszenarien hilfreich.
Die EU-Studie zeigt, dass Szenarien, welche die Bedarfs-Seite betrachten, von einem höheren Personalstand in Zukunft ausgehen als solche, die nur die Angebots-Seite modellieren. Die große Differenz zwischen dem Basis-Szenario und sowohl dem Utilisations- als auch dem Krankheitslast-Szenario ist alarmierend, da sie beweist, dass die derzeitige Nachproduktion von Gesundheitspersonal für eine alternde Bevölkerung bei Weitem nicht ausreicht. Eine zahlenmäßige Erhöhung des Personals oder die Attraktivierung der Berufe durch finanzielle Anreize, um die nötige Versorgung sicherzustellen, wird aber rasch an budgetäre Grenzen stoßen, wenn sie nicht demografiebedingt ohnehin unmöglich ist. Dem derzeitigen verzweifelten Ringen um Personal in den europäischen Gesundheitssystemen ist also vorhersehbare Erfolglosigkeit garantiert. Eine gewisse Hoffnung mag noch in der technologischen Entwicklung, insbesondere der Künstlichen Intelligenz, und der strukturellen sowie der prozessualen Weiterentwicklung der Versorgungssysteme liegen, indem durch sie die Effizienz verbessert werden könnte und damit mit weniger Personal die gleiche Versorgungsqualität erreicht werden könnte. Allein, diese Hoffnungen sind (noch) nicht durch belastbare Daten zu begründen und haben auch in der EU-Studie keinen Niederschlag gefunden.
Talentexporte. Die Rekrutierung medizinischen Fachpersonals aus fernen Ländern bringt keine Lösung der europäischen Personalprobleme. Unter den gegebenen Umständen ist der Pflegebedarf der älteren Generation zu groß.
Einzig in dem Szenario der gesunden Alterung findet sich die rechnerisch ermittelbare Chance auf eine ausreichende personelle Ausstattung mit Gesundheitspersonal in Zukunft. Dabei entspringt der Optimismus dieses Szenarios nicht etwa einem naiven Wunschdenken, sondern basiert auf den Erkenntnissen der „Global Burden of Disease“ (GBD 2021)-Studie des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), welche eine Verminderung der globalen Krankheitslast hauptsächlich bei ischämischen Herzerkrankungen, Schlaganfällen und Atemwegserkrankungen innerhalb der letzten Dekade feststellte.
Auch eine Lancet-Studie sagt aus, dass der Trend bis 2050 eine steigende Lebenserwartung bei abnehmenden Lebensjahren mit gesundheitlichen Einschränkungen (DALYs) erwarten lässt. Um diesen Trend fortzusetzen, müssten aber die verhaltensbezogenen und metabolischen Risikofaktoren wie Rauchen, Adipositas und Hypertonie viel konsequenter präventiv unter Kontrolle gebracht werden. Derzeit werden zwei Drittel der zusätzlichen Lebensjahre der über 60- oder 65-Jährigen in den letzten zwei Jahrzehnten in guter Gesundheit verbracht, ein Drittel mit Krankheit oder Behinderung, wodurch der Versorgungsbedarf einer alternden Bevölkerung zwangsweise steigen würde. Umgekehrt liegt in der Reduzierung der Krankheitslast durch verhaltens- und risikobezogene Prävention aber der wirksamste Hebel für die langfristige personelle Absicherung einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung. Diese Botschaft der Salutogenese ist keineswegs neu, sie verwandelt sich aber durch die aktuellen Studienergebnisse von einem humanitären Postulat in einen ökonomischen Imperativ.
Ob und wann die europäischen Staaten den Turnaround zur Healthy Longevity schaffen werden, ist nicht absehbar. Sicher ist hingegen, dass sich die kritische Situation im Personalbereich des Gesundheitswesens nicht kurzfristig entspannen wird. Für Länder wie Italien, Deutschland, aber auch Österreich prognostizieren alle Szenarien für 2026 einen Mehrbedarf an ärztlichem Personal.
Quelle: ÖKZ, 66. JG, 03/2025, Springer-Verlag.