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Großer Mut zur Lücke

1. Juli 2022 | Josef Ruhaltinger
5 Minuten nach 12.
5 Minuten nach 12.

Nach der überraschenden Präsentation der Pflegereform kehrt Ernüchterung ein. Einige der Maßnahmen drohen den hohen Ausbildungsstand der heimischen Pflegekräfte zu torpedieren. Es bleibt die Hoffnung auf einen starken zweiten Akt.

Der Austausch von Gemeinheiten zählte immer schon zur hohen Kunst der Politik. Eine besonders subtile Kategorie der Schmähung entwickelte die aktuelle Bundesregierung, als sie den 12. Mai zur Präsentation der Pflegereform wählte. Schon Wochen zuvor hatten Gewerkschaften und Pflegeinstitutionen den 202. Geburtstag von Florence Nightingale zu jenem Termin gemacht, an dem die 400.000 Beschäftigten im Gesundheits- und Langzeitpflegesystem gegen den Personal- und Finanznotstand demonstrieren wollten. Es sei „5 nach 12“ für die Pflege, hieß es. Mit der Pressekonferenz am „Tag der Pflege“ kaperte die Troika aus den Klubobleuten August Wöginger und Sigrid Maurer sowie dem ressortzuständigen Minister Johannes Rauch sämtliche Schlagzeilen. Die zuvor stark getrommelten Protestkundgebungen in Wien, Linz, Graz, Innsbruck und Klagenfurt schafften es gerade so in die Intros der Regierungsmeldungen.

 

Aufbruch in unbestimmte Richtung

Die Gewerkschaften begegneten dem Schlagzeilendiebstahl mit Haltung. „Es herrscht Erleichterung, dass es das Thema auf die Regierungsebene geschafft hat“, kommentiert Edgar Martin, im Lernberuf Stationsleiter am Krankenhaus Hietzing und hauptberuflich Personalvertreter für 30.000 Bedienstete in Wien. Auch auf Arbeitgeberseite zeigt man sich froh, in den Gesichtskreis der politischen Entscheidungsträger aufgestiegen zu sein. Anna Maria Dieplinger reagierte auf die Nachricht zur Pflegereform mit dem Wort: „Endlich“. Dieplinger ist Abteilungsleiterin für das Kompetenzmanagement Gesundheits- und Sozialberufe in der OÖ Gesundheitsholding. Gewerkschafter Martin und Pflege-Managerin Dieplinger beurteilen die 20 Punkte der Pflegereform gleichmütig. Dies könne nur ein Anfang sein. Denn: „Es wurden viele Bereiche ausgespart“, formulieren beide Branchenvertreter wortgleich.

Markus Golla ist Studiengangsleiter der Gesundheits- und Krankenpflege an der FH Krems und fixe Anlaufstation für niederösterreichische Politiker, wenn es um Fragen der Pflege geht. „Das Maßnahmenpaket kam für die Community überraschend“, erklärt er achselzuckend. Als am 11. Mai, einen Tag vor Präsentation des Maßnahmenpaketes, die ersten Gerüchte über eine „Pflegereform der Bundesregierung“ durch die Twitter-Blase waberten, klingelte Gollas Telefon unentwegt. Journalisten, Fachkollegen und Interessenvertreter aller Richtungen fragten an, was los sei. „Ich wusste gar nichts. Bei Politikeranfragen konnte ich nur erwidern, dass ich selbst gerade anrufen wollte.“ Gewerkschafter, Pflege-Managerin, Professoren – alle erzählen dasselbe. Sie hätten im Vorfeld nichts von einer präsentationsreifen Pflegereform gehört. Die 20 Maßnahmen kamen aus dem Nichts.

 

Heimlicher als Schüssel I

Im Sommer 2020 – wenige Monate nach dem ersten Corona-Schock – rief der damalige Gesundheitsminister Rudi Anschober die „Task Force Pflege“ ins Leben. Am Ende des Prozesses sollte ein Instrument stehen, das nach Vorbild des Gesundheitssektors eine Zielsteuerung von Bund, Ländern und Gemeinden erlauben würde. Gemeinsame Leistungsstandards und eine gemeinsame Finanzierung sollen dafür die Voraussetzungen liefern. Im Herbst 2021 – Wolfgang Mückstein hatte inzwischen das Ministerbüro am Stubenring 1 bezogen – war die politische Umsetzung des Reform-Papiers angedacht. Der Pandemieherbst machte sämtliche Zeitpläne zunichte. Übrig blieben die Berichte der Task Force: Die inhaltlichen Wünsche an eine Pflegereform waren damit formuliert.

Nachdem die Diskussion um die Impfpflicht und Lockerungsmaßnahmen auch Wolfgang Mückstein aus dem Amt gespült hatten, wollte sich Nachfolger Johannes Rauch in Sachen Pflegereform nicht länger mit den Ländern anlegen. Der langjährige Landespolitiker wusste, was nicht geht. Der einzige Weg, die Regionalgranden aus den Pflegeagenden rauszuhalten, war, die Finanzierungsfrage ohne 15a-Kompetenzen zu regeln. Damit war die Idee mit der „Pflegemilliarde“ geboren. Es gibt dazu mehrere Geschichten. Eine Lesart zur Geldbeschaffungsaktion spricht von vorarlbergischem Plausch zwischen Magnus Brunner und Johannes Rauch: Landsmann Brunner wollte nicht „kluppig“ scheinen (Montafonerisch für „geizig“) und sagte zu. Zu allem gab es den Segen von August Wöginger, der entgegen den türkisen Grundsätzen dem grüngeführten Ministerium einen politischen Erfolg zugestand. 

Schließlich will man laut Wöginger bis 2023 (!) 76.000 zusätzliche Pflegekräfte gewinnen.

Die Finanzierungszusage des Finanzministers war Dreh- und Angelpunkt der Pflegereform. Ohne die Zustimmung Brunners hätte Rauch sich in die Niederungen des Finanzausgleichs begeben müssen, in denen die Gefahr groß ist, dass die Bundesländer jeden einzelnen vom Bund geforderten Pflege-Euro zerpflücken. Mit der Finanzierung auf zwei Jahre schafft Rauch für die Länder Fakten, die sie nur schwer wieder vom Tisch wischen können. Wie so viel Geld so schnell und diskret mobilisiert werden konnte, beschäftigt seither die politischen Gemüter. Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer entwickelte dazu eine interessante These: „Ich bin überzeugt, dass die ‚Lotteriemilliarde‘ aus der Impfpflicht-Debatte zu einer Pflegemilliarde gemacht wurde.“ Von der Milliarde geht etwa die Hälfte (520 Millionen Euro) in die Gehaltsaufbesserungen der Pflegekräfte; knapp ein Viertel (225 Millionen) will der Bund in die Ausbildungsoffensive stecken.

 

Emmentalereffekt

Die weithin unbeachtete Frage der Kompetenzerweiterung für Pflege- und Pflegefachassistentinnen entfacht in Fachkreisen heftige Diskussionen. Die Assistenzberufe dürfen in Zukunft – sofern diplomierte Fachkräfte auf der Station anwesend sind – laufende Infusionen an- und abschließen (ausgenommen sind Zytostatika und Transfusionen mit Vollblut und/oder Blutbestandteilen). Die oft geforderte Kompetenzerweiterung für diplomierte Fachkräfte blieb hingegen aus – für Pflegeforscher ein zentrales Versäumnis. Markus Golla, Pflege-Professor an der FH-Krems, ärgert sich, wenn seine Absolventen „nach einem sechssemestrigen Bachelor-Studium keine Kopfwehtablette ohne ärztliche Verordnung verabreichen dürfen.“ Offensichtlich ist: Das Pflegesystem beschränkt sich mit diesen Bestimmungen selbst. Dass diese Befähigungs-Bestimmungen für die Bachelor- und Masterabsolventen der Pflegewissenschaften nicht erweitert wurden, liegt am entschiedenen Widerstand der Ärztekammer. Angesprochen auf die beschränkenden Kompetenzbestimmungen für die gehobenen Pflegedienste gab Minister Rauch bei einer Diskussionsveranstaltung Mitte März unumwunden zu, „nicht alle Stakeholder gleichzeitig“ überzeugen zu können – ohne Kammervertreter beim Namen zu nennen.

Die Tatsache, dass es im Gegensatz zu den Diplomkräften bei den Pflegeassistenzen zu einer Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten kam, erregt bei den Pflegeexperten große Skepsis. Martin Nagl-Cupal ist Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Wien. Er befürchtet eine „Deprofessionalisierung des Berufes: Weniger Ausbildung für mehr Mitarbeiter kann nicht zum Vorteil der Patienten sein.“ Derzeit sind rund 80 Prozent der Akutpflegekräfte in Kliniken diplomiert. Und dies könne sich ändern, befürchtet er. Er verweist auf Studien, dass vergleichbare Verschiebungen von Berechtigungen den „Personalschlüssel zumindest in Österreichs Krankenanstalten stark in Richtung Pflegeassistenzberufe“ verschoben hätten. Die Einführung einer Pflegelehre bewirke ähnliches: „Es kommt zu einer Verschiebung der Kompetenzen nach unten.“ Quantität verdränge Qualität. Der Pflege-Gewerkschafter Edgar Martin teilt die Besorgnis: „Hier geht es um Kosteneinsparungen und Kompetenzumschichtungen.“ Das No-Go bei den Berechtigungen für Diplomfachkräfte versteht auch er nicht. Es sei „ein schlechter Witz, dass Pflegekräfte mit akademischer Ausbildung nicht das tun dürfen, wozu sie ausgebildet sind“.

Ein anderer Stein, den Rauch und die Reform nicht anzugreifen wagen, ist die Frage der selbstständigen Pflegefachkraft. Seit Jahr und Tag fordern Gesundheitsökonomen, Pflegewissenschaftler und auch viele Mediziner, dass Pflegefachkräfte ihre Dienste mit Unterstützung der Krankenkassen anbieten dürfen – so wie dies Physiotherapeuten, Ergotherapeuten oder Hebammen ganz selbstverständlich tun. Durch selbstständige Pfleger mit professioneller Ausbildung können Prävention und Hausbetreuung deutlich intensiviert werden. Der Diplompfleger Enis Smajic hat im Februar das Titelbild der ÖKZ geziert und in einem langen Interview den Pandemie-Alltag seines Berufsstandes beschrieben. Die Pflegereform treibt auch ihn um: „Was spricht gegen eine selbstständige Praxis, in der pflegerische Leistungen angeboten werden.“ Die Antwort: Das System. Die Krankenkassen wollen die zusätzlichen Kosten nicht übernehmen, die derzeit von Bund und Land beglichen werden. Smajic ist überzeugt, dass die Berechtigung zur Kassenabrechnung die Pflegebranche beflügeln würde: „Die würde ein völlig neues Berufsbild schaffen.“

Bleibt die Frage der Bezahlung. Mit 520 Millionen Euro fließen mehr als die Hälfte des Reformbudgets in Gehaltserhöhungen. Jeder Experte und jede Expertin – mit Ausnahme der Gewerkschaften – bezweifeln, dass Geld das tatsächliche Problem des Berufes ist. Christian Federer ist stellvertretender Pflegedienstleiter der Wohn- und Pflegeheime der Stadt Hall in Tirol. Er beantwortet in einem Kommentar im Fachmagazin Pflegenetz die Frage sehr direkt: „Die Bezahlung ist vielleicht ausbaufähig, aber von einer Unterbezahlung ist sie weit entfernt.“ Er verweist dabei auf das aktuelle Einstiegsgehalt des Wiener Gesundheitsverbundes, der in seinen aktuellen Ausschreibungen für Diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal auf Normalstation 3.056 Euro auslobt. Die Position einer Stationsleitung ist mit 4.400 Euro ausgeschrieben. Dabei seien „Anrechnungen, Nacht- und Wochenendzulagen noch nicht berücksichtigt“.

Die von der Reform angeschobenen Gehaltserhöhungen werden zwar von allen Seiten dankend angenommen, keiner der befragten Experten und Expertinnen, nicht einmal die operativen Pfleger und Pflegerinnen selbst, glauben, dass dies den Beruf attraktiver machen würde. Dafür seien „verlässliche Dienstpläne und bewältigbare Gesamtarbeitszeiten deutlich wichtiger“, wie Uni-Professor Martin Nagl-Cupal betont. Tatsachen, die in der Pflegereform 2023 unter dem Titel „Imagesanierung“ angeführt werden können. 

Quelle: ÖKZ 6-7/2022, 63. Jahrgang, Springer-Verlag.

Die 20 Punkte der Pflegereform
  1. Gehaltserhöhungen im Ausmaß von 520 Mio. EUR.
  2. Zusätzliche Entlastungswoche für Pflegekräfte ab dem 43. Lebensjahr
  3. Pflegekräfte in der stationären Langzeitpflege bekommen pro Nachtdienst zwei Stunden Zeitguthaben.
  4. Erleichterungen bei der Rot-Weiß-Rot-Karte für Pflegekräfte
  5. Ausbildungszuschuss von zumindest 600 EUR pro Monat für Erstausbildung in einem Pflegeberuf.
  6. Pflegestipendium für Berufsumsteiger in Höhe von 1.400 EUR.
  7. Keine Befristung mehr für PflegeassistentInnen in Krankenanstalten.
  8. Kompetenzerweiterungen für Pflegefach- und PflegeassistentInnen.
  9. Pflegelehre wird als Modellversuch bundesweit eingeführt.
  10. Schulversuche an BMS und BHS werden ins Regelschulwesen übernommen.
  11. Nostrifikationsverfahren werden vereinfacht.
  12. Bedingter Rechtsanspruch auf Weiterbildung.
  13. Rechtsanspruch auf Pflegekarenz von drei Monaten.
  14. Pflegende Angehörige haben bereits nach drei statt nach sieben Tagen Anspruch auf finanzielle Unterstützung für Ersatzpflege.
  15. Pflegende Angehörige bekommen Zuschüsse zu Pflegekursen.
  16. Kostenlose Angehörigengespräche werden auf fünf Gespräche ausgeweitet.
  17. Erhöhte Familienbeihilfe wird künftig nicht mehr auf das Pflegegeld angerechnet.
  18. Menschen mit schweren psychischen Behinderungen oder Demenz erhalten den Wert von 45 statt 25 Stunden Erschwerniszuschlag pro Monat.
  19. Pflegende Angehörige erhalten ab Pflegestufe 4 eine jährliche Pflegegeld-Sonderzuwendung von 1.500 EUR.
  20. Unselbständige Beschäftigte der 24h-Betreuung sollen bessere arbeitsrechtliche Bedingungen erhalten. Die selbständige 24h-Betreeung bleibt zusätzlich bestehen. 

 

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