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Im September fand an der Universität Wien die Konferenz des Europäischen Primärversorgungsforums (European Forum for Primary Care, EFPC) statt. Dabei stellte der Keynote Speaker Ewout van Ginniken, Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies, Österreich ein gutes Zeugnis für seine Fortschritte in der Primärversorgung aus. Nach schlechten Ergebnissen noch vor zehn Jahren sehe man nun die richtigen Ansätze für Reformen, sagte er. Tatsächlich will unsere Gesundheitspolitik bis 2030 noch einen kräftigen Entwicklungsschub zustande bringen – von den derzeit etwas mehr als hundert Primärversorgungseinheiten (PVE) soll auf die dreifache Anzahl aufgestockt werden. Doch der Experte benannte auch unsere Schwachpunkte. Dass Patienten direkt ohne Zuweisung zum Facharzt gehen können, wäre in echten Primärversorgungsländern wie den Niederlanden undenkbar. Dort sei auch das Leistungsspektrum im primären Versorgungsbereich breiter. Damit verwies er auf das umfassende Konzept von Primary Health Care (PHC), in welchem die versorgungspraktische Perspektive, zum Beispiel in Form von PVE oder allgemeinmedizinischen Praxen, zwar eine entscheidende Rolle als Erstkontakt und Koordinationsstelle im Gesundheitssystem spielt, sich aber nicht darauf beschränkt.
In der Deklaration von Alma Ata erklärte die WHO 1979 Gesundheit als grundlegendes Menschenrecht, welches mit bevölkerungsmedizinischen Elementen der Gesundheitsversorgung global politisch umzusetzen ist. Mit den Schwerpunkten Gesundheitsförderung und Prävention, Bezugnahme auf Gesundheitsdeterminanten und dem gesellschaftsbezogenen Ansatz eignet sich PHC zur Beherrschung der hauptsächlichen Krankheitsursachen, der Risikofaktoren für schlechten Gesundheitszustand und zukünftiger gesundheitsgefährdender Entwicklungen. In den vergangenen 46 Jahren seit Alma Ata hat sich die globale Gesundheitssituation wesentlich verbessert. Die Lebenserwartung der Menschen ist um rund zehn Jahre gestiegen und das Sterberisiko in den ersten fünf Lebensjahren ist um zwei Drittel gesunken. Andererseits haben die demografischen und epidemiologischen Transitionen der letzten Jahrzehnte aber das Spektrum der Krankheitslast verschoben. Nicht übertragbare, chronische Krankheiten haben akute Infektionen als hauptsächliche Ursachen von Morbidität und Mortalität abgelöst. Auch die gesellschaftlichen Anforderungen an die Gesundheitsversorgung haben sich dramatisch verändert: Zunehmend ältere, urbane Populationen haben höhere Erwartungen bezüglich individueller Betreuung und effektiver Behandlung. Mit den finanziellen Limits gegen einen, den medizinischen Innovationen geschuldeten, kontinuierlich wachsenden Ressourcenbedarf für die Versorgung nach wissenschaftlich fundierten Kriterien und den demografisch bedingten personellen Engpässen an Fachpersonal müssen Gesundheitssysteme heute und in Zukunft deutlich effizienter werden.
Die WHO sieht PHC in ein Programm für eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik eingebunden, welches sich an den großen Gesundheitsproblemen und Versorgungsbedürfnissen der Bevölkerung unter Einbezug sozialer, wirtschaftlicher und umweltbedingter Faktoren orientiert. Fördernde, schützende, vorsorgende, kurative, rehabilitative und palliative Versorgung sollen in vernetzten, multiprofessionellen Teams erbracht werden, wobei die betroffene Bevölkerung selbst durch Befähigung zur Selbsthilfe aktiv eingebunden sein muss.
Die konsequente Umsetzung dieser Ziele auf nationaler Ebene hat das Potenzial, das jeweilige Gesundheitssystem effizienter und sozial gerechter zu machen und damit sowohl den Outcome zu verbessern als auch einen ökonomischen Benefit zu erzeugen, indem die niederschwellige und kontinuierliche Primärversorgung für die häufigsten chronischen Erkrankungen zum Vorteil für die Patienten gewählt wird und die Überstrapazierung teurer Ressourcen, wie ungerechtfertigte Hospitalisierungen, vermieden werden kann. Es gibt ausreichend empirische Evidenz, dass mit den präventiven Elementen der PHC die Manifestation chronischer Erkrankungen verzögert, die Mortalität gesenkt und Krankenhausaufnahmen reduziert werden können. Diese Evidenz leitet sich aus einer Vielzahl von innovativen PHC-Ansätzen und Projekten ab, welche zwar vielversprechende Ergebnisse geliefert haben, letztlich aber nur auf lokaler Ebene oder in begrenztem Rahmen stattgefunden haben und somit keine systemische Transformation auslösen konnten.
Leider ist daher nicht zu übersehen, dass es der PHC bisher nicht ausreichend gelungen ist, vermeidbare Hospitalisierungen zu verhindern. In 30 OECD-Ländern werden 5,8 Prozent der Belagstage in Akutkrankenhäusern für Patienten mit Diabetes, Asthma, COPD, Herzinsuffizienz und Hypertonie gebraucht – allesamt Krankheitsbilder, die in viel höherem Maße in einer Primärversorgungseinrichtung behandelt werden könnten. Eine Ursache für diese Zielverfehlung liegt sicher auch an dem anteiligen Rückgang der Allgemeinmediziner an der Gesamtzahl der Ärzte, der in den meisten OECD-Ländern zwischen 10 und 20 Prozent im letzten Jahrzehnt beträgt. Zudem fühlen sich Ärzte auch im Primärversorgungsbereich zunehmend belastet, weil sie mit administrativen Aufgaben beschäftigt sind, für welche sie sich überqualifiziert erachten, und andererseits aber überfordert werden von den komplexen fachlichen Anforderungen in der Primärversorgung und der rapiden Zunahme des aktuell erforderlichen medizinischen Wissensstandes. Ein Beispiel für verbesserungswürdige fachliche Informiertheit ist die Verschreibungshäufigkeit von Antibiotika durch Allgemeinmediziner, die in 45 bis 90 Prozent nicht nach evidenzbasierten Leitlinien erfolgt.
Besonders im Bereich der Prävention könnte und müsste ein gut funktionierender Primärversorgungsbereich wesentlich mehr bewirken. Während bei Kinder-Impfungen ein zufriedenstellender Level (noch) erreicht wurde, leiden Screening-Programme für die häufigsten Karzinom-Arten an schwacher Motivation, besonders in Österreich – und daran, dass bei Personen mit niedrigem Einkommen signifikant weniger Teilnehmerzahlen zu verzeichnen sind. Gegen das Risikoverhalten bezüglich Rauchen, Alkoholkonsum und Ernährung griffen bislang Präventionsmaßnahmen ebenfalls nicht im gewünschten Maße, was wohl am traditionellen österreichischen Lebensstil liegen mag, aber auch am zögerlichen politischen Willen, auf diesen mit geeigneten Gesetzesinitiativen einzuwirken.
Ein zentrales Anliegen der Primary Care-Strategie besteht in der Integration und Koordination aller Versorgungsebenen, für welche ein optimierter Informationsfluss unverzichtbar ist. Österreich hat mit seiner schwer umkämpften ELGA letztlich den richtigen Weg eingeschlagen. Die Hürden, die dafür in den vergangenen Jahren überwunden werden mussten, sind aber symptomatisch für die strukturell festgefahrenen Gesundheitssysteme in vielen Ländern.
Die ernüchternde Bilanz des PHC-Konzepts seit der Deklaration von Alma Ata bedeutet keineswegs dessen Scheitern. Zu seinen Intentionen gibt es nach wie vor keine Alternative, wenn eine qualitativ hochwertige und faire Gesundheitsversorgung für alle Gesellschaftsschichten angestrebt werden soll. Vielmehr steigt angesichts der sich dramatisch zuspitzenden finanziellen und personellen Engpässe der Handlungsdruck für eine konsequentere Umsetzungsstrategie für systemische Veränderungen der Versorgungsstruktur im Sinne von PHC.
Laut einem umfangreichen OECD-Bericht aus dem Jahre 2020 empfehlen sich dafür eine Vielzahl von Optionen, für welche in verschiedenen Staaten Erfahrungen gesammelt werden konnten. Gemeinsame Ausbildungs-Curricula für Mediziner, Pflege, Pharmazeuten und Physiotherapeuten wie das französische „Service Sanitaire“ könnten die Kommunikationsbasis der Dienstleister verbessern. Organisationsmodelle, wie die kanadischen MyHealth-Teams und die australischen Primary Health Networks, sind Leuchttürme für integriertes und teambasiertes Gesundheitsmanagement. Ambulante Beratungsstellen wie die deutschen und finnischen Gesundheitskioske sind für niederschwelligen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, Informations- und Präventionsangeboten modellhaft erprobt. Beim Ausbau der eHealth-Strukturen, inklusive Telemedizin und Home Monitoring, sind die Vorreiter Dänemark, Estland und Finnland.
Auch wenn die Argumente für die Stärkung der PHC überzeugend sind, wird sich nach den Erfahrungen seit der Deklaration von Alma Ata trotz aller absehbarer Not in den Versorgungssystemen aller Staaten dieser Welt die Transformation nicht automatisch vollziehen. Es braucht die Einsicht, den Willen und den Mut der Entscheidungsträger für eine entsprechende Strategie, zu welcher auch die Priorisierung bei der Zuteilung von Budgetmitteln gehört. Einerseits müssen präventive und gesundheitsfördernde Leistungen neben nach wie vor unverzichtbaren kurativen entsprechend honoriert werden. Andererseits muss ernsthaft darüber diskutiert werden, ob ein Anteil von zehn Prozent der nationalen Gesundheitsausgaben ausreicht, der Primärversorgung einen größeren Stellenwert zu verschaffen. Weniger als die Hälfte der OECD-Länder hat konkrete politische Maßnahmen ergriffen, welche die Rolle der Primärversorgung stärken sollen – Österreich ist aber immerhin dabei.
Quelle: ÖKZ 5/2025, 66. Jahrgang, Springer Verlag.
Quellen und Links: