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Früher wurde „interessierter gestritten“. Ein Teilnehmer kommentierte so die Abwesenheit von Gesundheitsministerin und dazugehöriger Staatssekretärin vom Gesundheitswirtschaftskongress Mitte Juni. Nicht nur er hatte den Eindruck, dass Gesundheitspolitik in der Ära Rauch ein höherer Stellenwert zugemessen wurde als in der gegenwärtigen Regierung. Da sorgte der Minister selbst für die Platzierung der Themen. Zugegeben: Ein bundesweiter Gesamtvertrag zwischen Gesundheitskasse und Österreichischer Ärztekammer erscheint als echter Langweiler. Dabei ist das Vorhaben von großer gesundheitspolitischer Tragweite. „Mit dem Gesamtvertrag werden die Weichen der ambulanten Versorgung über Jahrzehnte gestellt“, erklärt Thomas Czypionka, der sich einen Nachsatz nicht verkneifen will: „So der Vertrag kommt.“
Der Gesundheitsökonom des IHS sieht viele Steine am Weg der Verhandler. Das größte Hindernis ortet er im Bereich der Finanzierung. Eine Vereinheitlichung der Arzthonorare werde schwierig. „Wenn man sich am Durchschnitt der Länderhonorare orientiert, werden die Verhandlungen wohl rasch vorbei sein“, vermutet Czypionka. Kein Ordinationsinhaber mit Kassenvertrag werde Einbußen akzeptieren, um Kollegen aus anderen Bundesländern ein Zubrot zu gönnen. Daher werde man sich immer am „oberen Honorarniveau“ ausrichten. Und dies bedeute deutliche Mehrkosten, die vom Bund übernommen und aus der Staatskasse bezahlt werden müssten. Die ÖGK steckt nachhaltig in den Miesen und wird die Rechnung nicht selbst begleichen können. „Ich zweifle, ob bei der aktuellen Budgetlage ein entsprechender Spielraum vorhanden ist“, bleibt Czypionka abwartend.
Der Wunsch nach einem bundesweiten Gesamtvertrag ist ein politischer. In der Vergangenheit hatten sich die Ärztekammern der Länder mit den Vertretern der Ländergebietskrankenkassen an einen Tisch gesetzt und in regelmäßigen Abständen über ärztliche Leistungen und deren Honorierung verhandelt. Die über die Jahre gewachsenen Ergebnisse führten zu einer sehr heterogenen Gemengelage: Für ein ärztliches Gespräch erhält ein Arzt im Burgenland knapp 13 Euro, ein Arzt in Oberösterreich kann dagegen 17 Euro verrechnen. Und auch die Leistungen differieren: Die Muttermalkontrolle kostet in Niederösterreich etwa 60 Euro, in anderen Ländern zahlt die Kasse. Laut ÖGK verzeichnen die Leistungskataloge bei etwa 30 Prozent der ärztlichen Tätigkeiten Unterschiede.
Diese Beispiele waren für den Rechnungshof Grund genug, einen Bericht zur „Ärztlichen Versorgung im niedergelassenen Bereich 2018 bis 2023“ zu verfassen. Neben etlichen Nebengeräuschen wie der Forderung zur Entmachtung der Landesärztekammern war der Haupteffekt des RH-Berichts, dass das Thema Gesamtvertrag aus dem politischen Dämmerzustand in die Tagesberichterstattung gezerrt wurde. Das hatte Folgen: Staatssekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) erklärte den Gesamtvertrag zum „Gebot der Stunde“.
Zugegeben: Es ist eine journalistische Unterstellung, wenn man ÖGK-Obmann Andreas Huss und Ärztekammer-Präsident Johannes Steinhart nachsagt, sich dem Thema Gesamtvertrag eher schaumgebremst zu nähern. Keiner der beiden stellt sich explizit gegen die Forderung einer bundeseinheitlichen Lösung. Ihre Interessenslage ist kompliziert. Kassen-Obmann Andreas Huss weiß, dass der Gesamtvertrag seinem Haus je nach Ausgestaltung zwischen 350 Millionen Euro und 1,25 Milliarden Euro an Mehrkosten bescheren wird – und das bei einem prognostizierten Abgang von 546 Millionen Euro für 2025. Und für Ärzte-Präsident Johannes Steinhart ist der Status quo wahrlich komfortabel: „Viele bundesländerspezifische Lösungen funktionieren gut, und es ist nicht sinnvoll, diese ohne Weiteres zu ersetzen.“ Aber er weiß: Für Patienten ist es „wenig verständlich, wenn sie von einem Bundesland ins nächste fahren und dort eine bestimmte Leistung nicht von der Kasse übernommen wird.“ Es ist das Patientenwohl, das den Gesamtvertrag unausweichlich macht. Aus gesundheitspolitischer Sicht bietet er – wie 2024 der Finanzausgleich – eine der raren Chancen, mithilfe neuer Organisationsformen und digitaler Hilfsmittel frischen Schwung in die knarzenden Strukturen zu bringen.
Peter Lehner verfolgt die laufenden Gespräche zwischen Ärztekammer und Gesundheitskasse entspannt. Das Thema Gesamtvertrag ist für den Obmann der Sozialversicherung der Selbständigen SVS erledigt. Seine Organisation verfügt seit 2019 ebenso wie die BVAEB über eine bundesweite Vereinbarung mit der Österreichischen Ärztekammer. Die beiden Versicherungen beziehungsweise ihre Vorgängerorganisationen waren immer schon österreichweit organisiert – und nicht regional wie die Gebietskrankenkassen. Die historisch gewachsenen Tentakel der ÖGK-Kontrakte konnten so gar nicht wachsen. Der SVS-Gesamtvertrag enthält Komponenten, die auch bei den anstehenden ÖGK-Verhandlungen zum Tragen kommen werden. Um auf ein weitgehend einheitliches Honorarniveau zu kommen, wurden zeitliche Übergänge eingeführt. Bestimmte Positionen wurden eingefroren, andere dafür sukzessive über die Jahre erhöht –, „bis wir ein Niveau erreicht haben, das für alle passt.“
Die hohe Inflation der vergangenen Jahre habe die Angleichung der Honorare beschleunigt – und die Ausgangsposition für einen neuen Gesamtvertrag verschlechtert: „Ein Abkommen, das 2026 neu kommen soll, wird ganz, ganz schwierig werden“, warnt Lehner. SVS und Kammer verhandeln jährlich. Dabei geht es in einem Jahr um Innovationen und Anpassung der Leistungen, im folgenden wird besprochen, was das kosten darf. Lehner: „Wenn man nur über Preise verhandelt, wird es irgendwann für beide Seiten unattraktiv.“
IHS-Wissenschaftler Thomas Czypionka untersuchte im Frühjahr im Auftrag der ÖGK, mit welchen Leistungs- und Honorarmodellen vergleichbare Staaten in der Primärversorgung arbeiten. Er analysierte gemeinsam mit Kolleginnen die ambulanten Vertragssysteme in Deutschland, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark.
Offensichtlich ist: Bei der Vergütung gewinnen Pauschalen zunehmend an Bedeutung. Sie verringern laut Studie den Verwaltungsaufwand, schaffen Planbarkeit und senken Anreize zur Überversorgung. Für die Tarifgestaltung dienen in Deutschland und der Schweiz detaillierte Kostendaten als Grundlage. In der Schweiz wurde für die jährliche Honorarfestsetzung sogar eine eigene Gesellschaft gegründet (OAAT AG), deren einziger Zweck darin besteht, die jährlichen Kosten einer Ordination empirisch zu erheben. Interessant ist zudem das Instrument des Regelleistungsvolumens. Überschreiten in Deutschland und Dänemark Fachärzte ein bestimmtes Fallvolumen, werden ihre Mehreinnahmen gekürzt.
Johannes Rauch, Gesundheitsminister außer Dienst, hielt mit seinem Frust Anfang Oktober bei einem Kongressauftritt in Gastein nicht hinter dem Berg. Der Föderalismus lasse in der Gesundheitspolitik keine Veränderungen zu: „Die Denke ist so kleinteilig, dass mir schwindlig wird, wenn ich überlege, wie das weitergehen soll.“ Oder, wie es ein Besucher formulierte: „Wir sind dabei, das Pferd zu Tode zu reiten.“ Der Gesamtvertrag ist eine der raren Chancen, die Rahmenbedingungen der ambulanten Versorgung grundlegend zu verändern, ohne gottergeben Millionen und Milliarden an Euro mobilisieren zu müssen. Attraktive Organisationsformen, fachübergreifende Gruppenpraxen, die Einbindung nichtärztlicher Berufsgruppen in multidisziplinäre Teams, Pauschalen bei der Behandlung chronisch Kranker: All dies lässt sich in einem Gesamtvertrag neu regeln. Dabei ist es auch nötig, Gewohntes über Bord zu werfen – nicht nur in den Leistungskatalogen, sondern auch bei der Beschränkung der Behandlungsbefugnisse für Pflegedienste (okay, kein Inhalt des Gesamtvertrages) oder beim ungeregelten Arztzugang. Nicht jeder Arztbesuch muss zum Startschuss für eine Ordinationsrallye werden.
Die Erfahrungen aus den Gesundheitsreformen der jüngeren Vergangenheit nähren die Zweifel, ob die bestehenden Strukturen aus Kassen, Kammern, Bund und Ländern den notwendigen Wandel anschieben können. Der Bund und das Gesundheitsministerium sind bei den Gesprächen zu einem Gesamtvertrag nur Passagiere. Staatssekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig stellte im Sommer den Verhandlern dann auch verschämt, aber doch die Rute ins Fenster: Sie hoffe auf eine Einigung aller Beteiligten auf einen Gesamtvertrag. Am Ende von Verhandlungen könne aber auch eine Gesetzesinitiative stehen, die den Empfehlungen des Rechnungshofs folge. Sie deutet zart an, Kompetenzen im Gesundheitsbereich neu zu ordnen. Disruptive Politik ist heute Alltagsgeschäft. ÖGK-Obmann Andreas Huss weiß darum: „Wir müssen liefern.“
Quelle: ÖKZ 5/2025, 66. Jahrgang, Springer Verlag.