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Digitale Warteschleife

22. März 2023 | Martin Hehemann
Verschiedene medizinische Teams, stimmen sich mittels  Laptop im Krankenhaus ab ...
Verschiedene medizinische Teams, stimmen sich mittels Laptop im Krankenhaus ab ...

Die Digitalisierung bietet enorme Chancen für das Gesundheitswesen. Sie soll beitragen, die Arbeit des Personals zu erleichtern und die Versorgung der Patienten verbessern. Dennoch kommt sie nur schleppend voran.

Die Idee ist so bestechend wie einfach – und hat trotzdem keine Chance: „Wir kennen alle diese Situation: Wir warten stundenlang in der Ambulanz eines Spitals und hoffen, dass wir endlich aufgerufen werden. Vor lauter Angst, den Aufruf zu verpassen, trauen wir uns nicht einmal aufs WC.“ Romana Bichler, stellvertretende Leiterin des Studiengangs Digital Healthcare an der FH St. Pölten, schildert eine normale Situation aus dem Alltag der Patienten im heimischen Gesundheitswesen. Für das Problem, das sie hier beschreibt, haben ihre Studentinnen und Studenten eine Lösung entwickelt. Sie nennt sich Warteraummanagementsystem oder kurz WAROMA. WAROMA funktioniert folgendermaßen: Die wartenden Patienten erhalten ein Armband, mit dem sie akustisch und optisch informiert werden, wann sie an der Reihe sind. Damit haben sie die Möglichkeit, in Ruhe noch auf einen Kaffee zu gehen, das stille Örtchen aufzusuchen oder sonst etwas zu erledigen, was ihnen die Wartezeit vertreibt. Die Idee wäre relativ einfach und kostengünstig umzusetzen. Dennoch ist das bislang nicht passiert. „Die Krankenhäuser haben sofort abgewunken“, fasst Bichler die Bemühungen ihrer Studenten zusammen, den Prototyp in der Praxis zu testen.

 

Träges System

Hinter diesem Fehlschlag steckt aus Sicht von Bichler System – genauer gesagt die Trägheit des Systems: „Die Krankenhäuser sind extrem schwerfällig. Es ist unfassbar schwierig, echte Innovationen durchzusetzen“, meint die FH-Dozentin, die selbst jahrelang als Physiotherapeutin in einem Krankenhaus gearbeitet hat. Ihr Urteil zum Stand der Digitalisierung im heimischen Gesundheitswesen fällt ernüchternd aus: „Mit neuen, intelligenten Lösungen könnte man die Arbeit des Personals deutlich erleichtern und zugleich die Patientinnen und Patienten besser betreuen. Es passiert aber viel zu wenig.“ 

Dieses Urteil unterstreicht Filip Conic, der das Life Science Team des Unternehmensberaters Roland Berger in Wien leitet: „Österreich gibt im internationalen Vergleich viel Geld für das Gesundheitswesen aus. Das ist gut. Aber das System ist sehr ineffizient. Es kommt nur ein Bruchteil der Gelder bei den Patienten an.“ 

Diese Ineffizienz, so Conic weiter, „hemmt auch die Umsetzung der Digitalisierung“. Zahlreiche Projekte zeigen, was durch digitalisierte Systeme möglich wäre: Die Palette reicht von Künstlicher Intelligenz, die bei der Diagnose von Befunden oder der Entwicklung von neuen Medikamenten hilft, über elektronische Helferlein, die dem Patienten helfen, seine Medikamente wie verordnet einzunehmen, bis zu Software, die die Abwicklung von administrativen Tätigkeiten automatisiert.

Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2022, die das Beratungsunternehmen KPMG gemeinsam mit SOLVE Consulting erstellt hat, kommt zu einer etwas freundlicheren Beurteilung als manch andere Experten: „Unser Gesundheitssystem schlägt sich wacker und braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen.“ Die Studie, die auf einer Befragung von 150 Vertretern des österreichischen Gesundheitswesens basiert, deckt aber auch Schwächen auf. Dazu Co-Autorin Kathrin Bruckmayer, Verantwortliche für Digitalisierungsthemen im Gesundheitsbereich bei KMPG Austria: „Es gibt viele Ideen und Projekte, aber es fehlt oftmals an einer klaren Digitalisierungs-Strategie und einer entsprechenden Umsetzungssteuerung.“ Roland Berger-Berater Conic vermutet, „dass wahrscheinlich 90 Prozent der Gesundheitseinrichtungen davon überzeugt sind, eine Digitalisierungs-Strategie zu haben.“ Der Haken an der Sache: „Aber das ist oftmals nur eine IT-Strategie. Dabei ist Digitalisierung viel mehr.“

Infografik: Was verstehen Sie unter Digitalisierung / Digitaler Transformation?

Infografik: Was verstehen Sie unter Digitalisierung / Digitaler Transformation?

Die Mehrheit der Häuser im österreichischen Gesundheitswesen versteht unter Digitalisierung in erster Linie die Digitalisierung bestehender analoger Prozesse: 76 Prozent der Befragten sind laut der aktuellen KPMG-Studie dieser Ansicht. Für Felix Mayer, Mitglied des Digitalisierungs-Think-Tanks bei den Salzburger Landeskliniken (SALK), reicht das nicht. „Es geht nicht darum, die alten Prozesse von analog auf digital zu bringen, sondern sie zu verbessern.“ Mayer nennt ein kleines Beispiel, das sich derzeit in der SALK in Umsetzung befindet: In der Vergangenheit wurden Befunde von den Ärzten auf Band diktiert und danach abgetippt. Das Abtippen wird nun durch eine moderne Spracherkennung ersetzt. „Das allein wäre aber nur die Digitalisierung des analogen Prozesses“, so Mayer. „Wir gehen einen Schritt weiter und beschleunigen den Ablauf: Der Befund wird dem Arzt automatisch am Bildschirm angezeigt und dieser kann ihn gleich checken und freigeben.“

Auf einen weiteren kritischen Aspekt der heimischen Digitalisierungsbemühungen weist die „Krankenanstalten-Studie 2021“ des Beratungsunternehmens Roland Berger hin. Nur in 36 Prozent der befragten Häuser ist das Top Management der Treiber der Digitalisierung. In den meisten Fällen wird sie von der IT-Abteilung, den Fachbereichen oder dem Qualitätsmanagement forciert. „Digitalisierung ist Chefsache“, meint Roland Berger-Berater Conic. „Ohne die volle Unterstützung durch die Geschäftsführung geht es nicht“, formuliert es SALK-Mann Mayer. Michael Heinisch, Chef der Vinzenz Gruppe, die in Österreich an zahlreichen Krankenhäusern, Reha- und Pflegeeinrichtungen beteiligt ist, teilt diese Meinung. Er sieht die Digitalisierung dabei als höchst potentes Mittel zum Zweck: „Wir rufen nicht die technologische Medizin aus. Die neuen Technologien helfen uns aber, unsere Patienten besser zu betreuen und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlasten.“ Aus Sicht von Stefan Biesdorf, Experte für Digitalisierung im Gesundheitswesen beim Unternehmensberater McKinsey, werden die Möglichkeiten der Digitalisierung im heimischen Gesundheitswesen bei Weitem noch nicht ausgeschöpft: „Österreich liegt international im Mittelfeld – vor Deutschland und der Schweiz, aber deutlich hinter den Spitzenreitern wie Estland, Israel oder Schweden“, so Biesdorf. Nachsatz: „Da bleibt noch viel Potenzial ungenutzt.“

Dieses Potenzial hat McKinsey 2021 in einer Studie in Zahlen gefasst. Demnach hätten im Jahr 2019 im heimischen Gesundheitswesen bis zu 4,7 Milliarden Euro pro Jahr gespart werden können, wenn man die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent genutzt hätte. Das wären rund 14 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen von damals 35 Milliarden Euro gewesen. Biesdorf warnt allerdings davor, die Digitalisierung als Cost-Cutting-Tool zu verstehen: „Das eingesparte Geld kann man anderswo besser einsetzen. Es geht darum, die Performance des Systems zu verbessern.“

Roland Berger-Berater Conic bestätigt dem heimischen Gesundheitswesen auf dem Weg zur Digitalisierung durchaus gewisse Erfolge – vor allem die elektronische Gesundheitsakte ELGA, den e-Impfpass, der während der Covid-19-Krise in einem Kraftakt umgesetzt wurde und das elektronische Rezept, das seit dem Sommer 2022 über die e-Card verfügbar ist. „Das sind Leistungen, die auch international anerkannt werden“, so Conic.

Gerade der Fall ELGA ist aber auch ein Beispiel für ungenutzte Möglichkeiten. Denn viele Ärzte befüllen die elektronische Gesundheitsakte nicht. Und wenn sie es tun, dann werden die Daten bislang nur für die sogenannte primäre Gesundheitsversorgung genutzt, also für die Behandlung des Patienten. Andere Länder schöpfen dagegen das gesamte Potenzial dieser wichtigen Informationen aus.

 

Abgeschottete Datensilos

Österreichs Gesundheitssystem agiert bei digitalen Gesundheitsanwendungen langsam, bleibt aber nicht unbeeinflusst. Im Zuge der Pandemie wurde in Österreich die Telemedizin forciert: Anstatt wie gehabt in die Arztpraxis oder ins Spital zu gehen, baten die Patienten ihren Arzt zunehmend per Video-Call oder Telefon um Rat. Vinzenz Gruppe-Chef Heinisch: „Die Telemedizin ist eine gute Unterstützung. Sie kann und soll den persönlichen Kontakt natürlich nicht ersetzen. Aber nicht jeder Patient muss immer gleich zum Arzt oder ins Spital.“ Berger-Experte Conic bewertet es sehr positiv, dass „die Ärzte Termine über Telemedizin mittlerweile auch bei den Krankenkassen verrechnen können. Das ist ein wichtiger Schritt.“

Bei der Vinzenz Gruppe setzt man ebenfalls weiter auf das Konzept. Der private Spitalsbetreiber hat die sogenannte „Digitale Ambulanz“ eingeführt. Dabei wird eine Spitalsambulanz nachempfunden – nur eben virtuell: Mit einem Warteraum, in dem der Patient informiert wird, wann sein Gespräch stattfindet, mit der Möglichkeit, seine Befunde einzusehen und mit dem Video-Call, in dem er den Arzt konsultiert. Vinzenz Gruppe-Chef Heinisch glaubt, dass der Ansatz für viele der Patienten sehr attraktiv ist. „Vielen Menschen ist der Spitalsbesuch unangenehm. Für sie ist die Digitale Ambulanz eine echte Alternative. Oder für die Patienten einer Spezialambulanz. Die ersparen sich die langen Anfahrtswege.“ Der Fokus auf die Bedürfnisse von Patienten und Personal ist aus Sicht von Heinisch der Schlüssel zum Erfolg der Digitalisierung im Gesundheitswesen. 

„Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als Technologie und Automatisierung dazu gedient haben, günstiger zu produzieren. Darum geht es jetzt gar nicht mehr.“ Mit Blick auf den demografischen Wandel und den sich verschärfenden Personalmangel biete die Digitalisierung vielmehr den Ausweg aus einem Dilemma: „Uns stehen am Arbeitsmarkt immer weniger Fachkräfte zur Verfügung, und die Zahl der Patienten wächst. Mithilfe der Digitalisierung könnten wir das Personal entlasten und dennoch mehr Patienten helfen.“

Digital Health-Expertin Bichler von der FH St. Pölten ist davon überzeugt, dass es gar nicht immer die hochtechnologischen Innovationen sind, die dem Gesundheitsbereich weiterhelfen – wie beispielsweise Künstliche Intelligenz, die bei der Krebsdiagnose unterstützt, oder Roboter, die bei Operationen assistieren. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern sind völlig überlastet. Die besten Chancen zur Umsetzung haben praktische Lösungen, die das Leben von Patienten und Personal rasch erleichtern.“ 

Quelle: ÖKZ, 64. JG, 1-2/2023, Springer-Verlag.

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